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11.11.2005

in den letzten tagen bei der arbeit konnte ich ein erstaunliches phänomen beobachten: die kantine. die kantine ist der schmelztigel der belegschaft. mehr ethnische gruppen wie hier findet man wohl selbst im big apple nicht. hier trifft aussendienstler auf techniker, bürokauffrau auf mechaniker und putzfrau auf chefsekretärin. wie ein damoklesschwert schweben die spannungen über dem hungrigen menschenhaufen. gerade wenn es um die lebensnotwendige nahrungsaufnahme geht verstehen ja die meisten menschen keinen spaß mehr. so wird ein unbeabsichtiger vordrängler in der schlange der essensausgabe schnell mal zum tropfen der das fass zum überlaufen bringt, denn immerhin war der schlipsträger zuerst in der schlange. jedoch braucht der frisch gebügelte armani auf zwei beinen etwas zu lange an der besteckausgabe. zumindest für den geschmack des vokuhila tragenden lastwagenfahrers hinter ihm. während ersterer noch ein zusammenpassendes paar messer und gabel aus den tiefen des besteckkastens wühlt zieht letzterer schnurstracks an ihm vorbei. wozu denn auch warten? wer sich die trucker mal genauer ansieht, weiß dass ein besteck für sie nur ein hindernis darstellen würde. ein schnitzel isst sich doch immernoch am besten mit den fingern...
eine solche erniedrigung kann aber der herr im anzug nur schlecht auf sich sitzen lassen, packt allen charme aus und tippt dem trucker von hinten aufs "Pur - abenteuerland tour 1993"-t-shirt mit abgeschnittenen ärmeln. "ich glaube sie waren hinter mir." der schnurrbart wirbelt im wind als sich der trucker umdreht "so glaubst du? aber ich find das so jetzt besser!" der man im anzug will scheinbar etwas entgegnen, röchelt aber nur und blickt hinunter auf seine krawatte, die sich der trucker schon ums handgelenk geschlungen hat und etwas unter spannung setzt. ok, der klügere gibt nach denkt er sich wohl und geht einen schritt zurück. der trucker hat gewonnen und darf vorne bleiben, selbstverliebt streicht er sich seinen bart glatt.

heiß kann es auch hergehen, hat eine tippse zufällig das gleiche H&M schnäppchen am vortag gemacht wie die putzfrau, die sich für den kantinengang extra aus dem kittel schält. wie ein schmetterling aus einem kokon. naja, ok, eher ein falter. nachtfalter. ach egal. da meiner erfahrung nach nur frustrierte singlefrauen in dieser firma arbeiten (alle anderen kümmern sich zuhause um die kinder oder den haushalt und schicken den mann malochen) ist es obere priorität über allen anderen mitbewerberinnen zu stehen oder diese gleich komplett auszuschalten. im kampf um einen gutverdienenden ernährer ist jedes mittel erlaubt. hat dann zufällig eine konkurrentin aus einer niedrigeren kaste den gleichen kampfdress aus dem grabbeltisch gezogen wie sie selbst (und sieht darin vielleicht noch besser aus, weil es bei ihr sogar passt) heißt es krieg!
leider werden die weiblichen konflikte nicht direkt ausgetragen (ein catfight in der kantine wär endlich mal eine abwechslung), hier wird viel subtiler vorgegangen. liebstes kampfmittel: gerüchte verbreiten. schnell ist die betroffene putzfrau vom kroatischen lastwagenfahrer geschwängert worden, hat heim hinterhofarzt abgetrieben und weiß selbst eigentlich garnichts davon. plötzlich werden alte jugendsünden der kollegin mit der fußballmanschafft und fotos von der letzten weihnachtsfeier mit dem kompletten vorstand auf der herrentoilette wie durch zufall versehentlich als rundmail an die komplette belegschaft verschickt.

ein weiteres interessantes phänomen ist die kassiererin in der kantine. ohne sich zu bewegen sitzt die stämmige frau hinter ihrer kasse in ihrer kleinen insel und wartet auf den nächsten kunden. und das wahrscheinlich auch zwischen den pausenzeiten. zumindest hat noch niemand die kassiererin ausserhalb der kasseninsel gesehen. wenn man nicht genau hinschaut sieht es wirklich so aus, als wäre sie mit ihrer kleinen kasseninsel verwachsen. ein kassierender cyborg. die perfekte symbiose aus mensch und maschine. gerüchte zufolge liegt die kantine auch schon in der dritten generation in familienhand. und in der tat, alles sieht irgendwie nach engen, internen familienbeziehungen aus, ohne frisches blut - ein seichter genpool. ein familienbetrieb der stark an gasthäuser in abgelegenen bergdörfern erinnert. hier die augen etwas zu eng, dort die ohren etwas blumenkohlartig, hier ein damenbart, da ein zu kurzes bein und hier einen finger mehr... naja, immerhin ist das essen halbwegs genießbar. einfach nicht daran denken.

obwohl diverse vorkommnisse schon zu auffällig sind. gibt es zum beispiel an einem tag braten, gibt es am nächsten tag auf jeden fall etwas mit "gehacktes". gab es am vortag schnitzel oder putensteak gibt es heute geflügelgeschnetzeltes. natürlich hält man sich mit sprüchen wie "das könnt sich kein koch/kantinenpächter/... leisten sowas zu machen, wenn das rauskommt bekommt der doch niemehr einen job" oder "die kantinen werden ja genauer kontrolliert als manch eine kneipe" mental über wasser. aber ab und zu, wenn man mal wieder auf etwas hartes im hackfleich beisst ertappt man sich dann doch mal dabei, wie man sich verstohlen danach umschaut ob die köchin noch alle fingernägel hat. da ist man manchmal trotz großen hungers schnell mit dem essen fertig. sowieso verbringt niemand länger in der kantine als unbedingt nötig. aber es gibt auch ausnahmen...

extra eine viertelstunde vor allen anderen kommen die mechaniker in die kantine. grund: freie platzwahl. unter gewissen umständen sind die guten sitzplätze in der kantine begehrter als die letzte freie liege in einem hotel auf mallorca um acht uhr morgens. aber dummerweise gibts in der kantine keine handtücher, glücklicherweise aber auch keine englischen touristen. die wertvollsten sitzplätze sind im raucherbereich, gleich vorne rechts und links neben dem eingang. für die mechaniker wird so der weg zwischen eingang und essensausgabe zum catwalk, für die bürokauffrauen zum spießrutenlauf.
generell ist es empfehlenswert den raucherbereich als normaler menschen zu meiden. wer mal einen abend mit starken rauchern in der kleinen und geheimen unsagBar verbracht hat an dem die mal wieder lüftung ausgefallen war, hat nicht ansatzweise die nikotindichte in der luft erlebt wie im raucherbereich der kantine. man hat ja nur so kurz pause, und zwischen den pausen und feierabend für zigaretten abstechen will ja auch niemand. also wird hier das nikotin für die letzten und kommenden stunden im vorraus betankt. zigaretten werden hier nicht geraucht, sondern förmlich verschlungen. wer sich als nicht- oder gelegenheitsraucher im raucherbereich verirrt ist froh wenn er wieder an seinen asbestverseuchten arbeistplatz darf um mal wieder richtig durchzuatmen.
königin der raucherinnen ist mit abstand die pförtnerin. intern wird sie schon nurnoch "dyson" genannt, denn kaum ein anderer schafft es die langen malboro 100 in vier zügen bis auf den filter herunterzurauchen. dazu gibts lediglich kaffee und ab und zu ne aspirin. so ungefähr sieht sie dann auch aus. die durchschnitts figur einer mittvierzigerin, immerhin noch gut genug für die mechaniker, eine haut wie pergamentpapier, die eine gesunde teer/kaffee-färbung aufweist. herausgewachsene blonde strähnchen und dezent überschminkte tränensäcke. blau lackierte fingernägel die unter der nikotinschicht grünlich herausschimmern. ausser montagsmorgens, da sieht sie manchmal aus wie gerade im auto auf dem parkplatz hinter dem "ü-30-club" aufgewacht und in die firma gefahren. trotz allem hat "dyson" wohl den lässigsten job in der ganzen firma. von 7 uhr - 9 uhr werden alle mitarbeiter mit einem monotonen "moin" begrüßt. das ganze ist schon so verinnerlicht, dass sie dafür schon garnichtmehr von ihrem solitäre-spiel aufblicken muss. gegen feierabend dann das gleiche rückwärts, einmal "tschau" für jeden mitarbeiter und immernoch am solitäre. obs immernoch das selbe spiel ist oder vielleicht doch schon ein neues lässt sich schwer sagen, zutrauen könnte man ihr aber beides. zwischendurch wird dann noch mit polnischen lastwagenfahrern geflirtet und eine schachtel malboro 100 nach der anderen geleert.

 

song of the day:
ben folds - prison food
 


also, bis demnächst, mein böses tagebuch