klick -> zurück zum bösen Tagebuch

 

 

04.12.2004

hallo mein böses tagebuch,

endlich geschafft, die letzte klausur für dieses jahr ist geschrieben, jetzt kanns wieder losgehen mit dem leben. die letzten wochen habe ich mich fast ausschließlich mit meinen kumpels tueson und christoph zuhause verschanzt und dort haben wir uns ordentlich stoff in die venen gejagt. schulischen stoff. technologie, physik, analysis, chemie... was der mensch halt so zum überleben braucht. aber jetzt ist die stressige zeit fürs erste vorbei und es wird zeit für einen noch stressigeren abschnitt im jahr: die weihnachtszeit. ich bin eigentlich kein weihnachtsfeind, nur diese schrecklich weihnachtlichen leute mit dem schrecklich aufgesetzten weihnachtslächeln gehen mir extrem auf den sack. deshalb ziehe ich es vor, bis weihnachten einen großen bogen um öffentliche menschenansammlungen wie fußgängerzonen, kaufhäuser, einkaufszentren... zu machen.

deshalb kam wohl meine freundin am abend des ersten adventes auf die idee unserem weihnachtsmarkt einmal einen besuch abzustatten. praktisch als extremtherapie, kalter entzug. weihnachtsmarkt, das bedeutet für mich ein lieblos rechtwinklig aufgestellter haufen plastikbuden die nach holz aussehen, unbeabsichtiger körperkontakt mit wildfremden, rotbäckigen menschen die einen dann mit heißem glühwein verbrühen, der ätzende geruch von marzipan und amaretto der sich wie salzsäure durch meine nasenwände frisst, crepes und lebkuchen zum preis eines kleinwagens und eine stimmung, ungefähr so romantisch wie rohes hackfleisch in herzchenform.

doch was ich vor ort sah übertraf meine wildesten fantasien. ein lebendes, waberndes,  pulsierendes, dampfendes, schwitzendes, feuchtes menschenknäuel das sich durch die engen gassen schob. in riesiege amöbe die ansetzte mich mit haut und haaren zu verschlingen. ok, es gab also kein zurück mehr. jetzt war schadensminimierung angesagt. wie könnte ich den abend für mich am wenigsten unangenehm gestalten. ich legte mir den kürzesten plan zum einzigen stand mit heißem apfelwein zurecht. ja, der heiße apfelwein wird bestimmt helfen das alles hier schnellstmöglich hinter mir zu lassen. aufgrund einer tief verwurzelten abneigung gegen zusammengepanschte glühweinscheiße, bestehend aus gefärbtem polnischem rostschutzmittel, dem geschmack von ranzigem traubensaft bin ich auf den einzigen stand mit heißem, gutem, echten apfelwein angewiesen. also spitzte ich meinen ellenbogen und rammte seitlich in die nächste lücke im menschenstrom. meine freundin an der hand kämpfte ich mich vor bis zu "kolbs äppelwoi".

so standen wir dann also da, zusammegepfercht in einer kleinen ecke, die tasse mit dem heißen gold wie einen schatz in den händen, den blick auf den immer dichter werdenden menschenstrom gerichtet, der unablässig an uns vorbeizog. man beobachtet also. da gibt es diese frisch verliebten paare, zu erkennen an geschmacklosen lebkuchenherzen mit in schriften wie "schatzi" oder "schnurzel". es gibt kegel- und fußballvereine, die mit bussen schon mittags um vier angekarrt werden. ihr atemdampf ist mittlerweile schon dunkelrot und hat sich dem glühwein angepasst. sie schwitzen und haben trotz der kälte keine jacken (mehr) an, dafür aber extrem unlustige, batteriebetriebene, blinkende nikolausmützen oder, noch schlimmer, blinkende geweihe.
dann gibt es noch lustig bedruckte, silberne heliumballons, die neben irgendwelchen leuten herschweben. das sind bojen. kinderbojen. jeder ballon deutet auf einen halbwüchsigen hin, der davor bewahrt werden soll im gewühl verloren oder totgetreten zu werden. ich glaube von allen verkäufern macht der ballonverkäufer mit abstand am meisten umsatz. acht bis 10 euro für einen pokemon ballon ist ja auch wirklich nicht zuviel verlangt, wenn man dadurch seinen bälger sichtbar machen kann. wenn ich mal alt und reich bin binde ich meinem kind auch ballons ans handgelenk. genau so viel, dass er selbst so ca. ein bis zwei meter über dem boden schwebt. dann noch eine leine ans bein und ab auf den weihnachtsmarkt.

mittlerweile haben die heißen apfelweine ihre volle wirkung entfaltet. ihr kennt das. dieses stadium, genau zwischen nüchtern und besoffen sein. das gesicht wird leicht taub. man verliert die hemmungen und verspürt den wunsch die schnüre von vorbeigleitenden ballons zu kappen. man kann seinen eigenen verfall beobachten, man sieht sich von aussen und kann nichts machen. man fühlt sich hilflos der eigenen motorischen dekoordination ausgeliefert. da ängste in einer stresssituation im angetrunkenen zustand schnell mal eine kleine psychose auslösen können, beschließe ich meine freundin und mich hier endlich rauszuholen. ich versuche sie zur überreden einen herzanfall zu simulieren, damit wir durch die (hoffentlich) entstehende rettungsgasse flüchten können, doch sie lehnt ab. als bleibt uns nur der kampf durch das gewühl. eine halbe stunde später spuckt uns der wuselnde, dunkle, unheilvolle moloch am anderen ende des weihnachtsmarktes wieder aus. ich fühle mich als wäre ich aus dem höllenschlund entflohen. als hätte ich mich aus dem würgegriff eine übermachtigen schlange befreit. die freiheit hatte uns wieder. nie mehr weihnachtsmarkt.

song of the day:

Monster Magnet - Dead Christmas

also, bis demnächst, mein böses tagebuch


der ideale weihnachtsmarkt. eine bude mit heißem apfelwein und viel platz.